Heute, am 2. Januar 2022, feiert der Tag der Introvertierten sein 10-jähriges Jubiläum. Zwischen den oft anstrengenden Feierlichkeiten rund um Weihnachten/Neujahr und der Rückkehr in den Berufsalltag soll der zweite Tag im neuen Jahr speziell den Introvertierten unter uns einen offiziellen Rückzugsraum zum Innehalten und Auftanken ihrer inneren Kraftreserven gewähren.
Tag der Introvertierten – World Introvert Day
Der Ursprung dieses Feiertags geht auf die Initiative der deutschen Diplom-Psychologin Felicitas Heyne zurück. Als World Introvert Day wird dieser Tag nicht nur in Europa, sondern weltweit gefeiert. Wobei „Feiern“ in diesem Fall in Intro-Manier zu verstehen ist : Jede/r für sich, ruhig und entspannt in ihrem/seinem eigenen Zuhause, im Herzen verbunden mit anderen Introvertierten rund um den Globus. Laut Heyne ist es an der Zeit, „das Bewusstsein einer Gesellschaft, die sich seit Jahren zunehmend dem Kult um die Extraversion verschreibt, für die Besonderheit der Introvertierten zu schärfen!“
Ein dreifaches Plädoyer
Diesem Anliegen schließe ich mich gerne an. Und zwar mit einem dreifachen Plädoyer:
1. für mehr Wissen über Introversion,
2. für mehr Wertschätzung und
3. mehr Sichtbarkeit von Introvertierten.
Introvertierte dürfen nicht länger übergangen, unterschätzt und übersehen werden.
Der Beitrag von Introvertierten ist genauso bedeutend, wie derjenige von Extravertierten. Introvertierte brauchen sich weder zu verstecken noch sollten sie sich aufgrund ihrer Veranlagung in irgendeiner Weise defizitär fühlen. Es wird Zeit, dass sie klar, mutig und mit gestärktem Rückgrat Stellung beziehen, eine ungesunde Opferhaltung loslassen und ihren extravertierten Mitmenschen charakterstarke Gegenüber auf Augenhöhe werden. Nicht nur Extravertierte, sondern auch Introvertierte gehören ins Rampenlicht!
1. mehr Wissen über Introversion
Damit nachhaltige Veränderungsprozesse möglich werden, braucht es in erster Linie mehr Wissen. Wo kein oder zu wenig Wissen da ist, dominieren Vorurteile, kommt es schnell zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen. Jene können eine so unheilvolle Dynamik entwickeln, dass langjährige Freundschaften, Partnerschaften oder Familien daran zerbrechen. Dies haben auch mein stark extravertierter Ehemann Rolf und ich (stark introvertiert und hochsensibel) erlebt. Erst die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema hat uns eine neue Sicht auf unsere Unterschiedlichkeit geschenkt und unser Miteinander von Grund auf verändert. In meinem Buch Die leisen Weltveränderer – von der Stärke introvertierter Christen, das vor vier Jahren erschienen ist, schreibe ich mehr darüber. Mein Buch ist ein Beitrag aus christlicher Perspektive, weil auch der christliche Kontext viel stärker vom Spannungsfeld Introversion-Extraversion betroffen ist, als vielen bewusst ist. Darauf hat bereits Susan Cain hingewiesen, welche den Introvertierten mit ihrem Buch Quiet, zu Deutsch Still weltweit Gehör verschafft hat.
Wissenswert ist beispielsweise, dass Introversion und Schüchternheit nicht dasselbe sind. Introvertierte sind auch nicht automatisch hochsensibel. Es gibt nämlich Introvertierte, die nicht hochsensibel sind und im Gegenzug Hochsensible, die extravertiert sind.
Unwissenheit begegnet mir dann, wenn Menschen im Anschluss an ein Referat auf mich zukommen und sagen: „Ich glaube nicht, dass du wirklich introvertiert bist. Wenn doch, wärst du nicht in der Lage, auf diese Weise von einer Bühne zu Menschen zu sprechen.“ Was sie offensichtlich nicht wissen:
Ein Dienst im Rampenlicht steht nicht ursächlich im Widerspruch zur introvertierten Veranlagung.
Bloß, weil es Introvertierte von Natur aus weniger ins Scheinwerferlicht drängt und es sie vergleichsweise mehr Überwindung und Kraft kostet, vor Menschen zu sprechen, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie nichts zu sagen hätten und aufgrund ihrer Veranlagung auf keine Bühne gehören. Die Welt wäre um einiges ärmer, wenn alle Introvertierten von den Bühnen verschwänden. Dies gilt übrigens auch für großartige Schauspieler wie Tom Hanks, Harrison Ford, Emma Watson und andere, welche öffentlich zu ihrer Introversion stehen.
Während viele Menschen Introversion am Verhalten eines Menschen (oder ihrer eigenen Vorstellung von Introversion) festmachen, greift das Wesen von Introversion sehr viel tiefer. Dies wird bereits an der Wortherkunft deutlich: „Introvertiert“ setzt sich aus den lateinischen Wörtern intro (hinein) und vertere (wenden) zusammen und bezeichnet die Art und Weise, wie ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt und sein Leben innerlich bewältigt. Wörtlich bedeutet also introvertiert „nach innen gewandt“ und extrovertiert „nach außen gewandt“. Dies erklärt, wieso sich introvertierte Menschen in ihre private Innenwelt zurückziehen, wenn sie etwas beschäftigt oder wenn sie ein Problem lösen müssen. Erst, wenn sie innerlich Klarheit gewonnen haben, sind sie in der Lage, mit anderen darüber zu sprechen. Ganz im Gegensatz zu Extravertierten, die den Austausch mit anderen brauchen, um ihre Gedanken zu ordnen und Lösungsansätze zu erarbeiten. Die Orientierung nach innen und nach außen zeigt auch den Hauptunterschied im Blick auf die Energiegewinnung der beiden Charaktere: Introvertierte beziehen ihre Energie von innen heraus. Im Rückzug und Alleinsein gewinnen sie neue Kraft. Extravertierte hingegen beziehen ihre Energie aus der Außenwelt.
Bereits Carl Gustav Jung hat diese Unterscheidung detailliert ausgeführt und erklärt, dass die Pole Introversion und Extraversion ein Kontinuum bilden, auf dem sich jeder Mensch individuell positioniert. Jeder Mensch ist in der Lage, ein gewisses Spektrum auf diesem Kontinuum abzudecken. Als stark introvertierte Person weiß ich heute ziemlich genau, wo meine bevorzugte Nische auf diesem Kontinuum ist. Trotzdem kann ich Dinge tun, die andere als „extravertiertes Verhalten“ bezeichnen würden (Interaktion mit Menschen, Teilnahme an Grossanläßen etc.). Grundsätzlich können Introvertierte und Extravertierte dieselben Dinge tun oder lassen, aber es kostet sie unterschiedlich viel Kraft. Je weiter die Spanne zwischen der eigenen Disposition und dem gezeigten Verhalten ist, desto größer ist der innere Kraftaufwand und entsprechend länger die Erholungszeit. Wenn mein Mann und ich gemeinsam von einer Veranstaltung nach Hause kommen, ist er meist energiegeladen und voller Tatendrang, während ich mich am liebsten zurückziehen und von der Anstrengung erholen möchte.
An diesen Beispielen wird deutlich, wie stark die introvertierte und extravertierte Andersartigkeit in das alltägliche Leben hineingreifen. Ohne die Erkenntnis, dass es sich bei beiden Veranlagungen um ein wertneutrales Persönlichkeitsmerkmal handelt, wird es im Miteinander immer wieder zu Spannungen kommen.
2. mehr Wertschätzung von Introvertierten
Mehr Wissen führt nicht selten zu mehr Wertschätzung. Dabei stehen sich die Introvertierten oft selbst im Weg. Viele haben sich so lange defizitär verstanden und abgelehnt gefühlt, dass es ihnen schwerfällt, sich anzunehmen, geschweige denn sich wertzuschätzen. Hier gilt es, einen Weg der Selbstannahme zu gehen und ein Ja zur eigenen Veranlagung und damit verbundenen Stärken und Schwächen zu finden.
Introvertierte möchten nicht bloß toleriert und akzeptiert, sondern respektiert und wertgeschätzt werden. Im Sinne der Erkenntnis: Wir brauchen einander. Gemeinsam sind wir stärker. Ihr Introvertierten seid kein lästiges Übel, sondern eine unentbehrliche Ergänzung für uns Extravertierten: in Unternehmen, in christlichen Gemeinden etc. Nicht nur an der Basis, sondern auch in Leitungspositionen. Was Letzteres betrifft, finde ich großartig, dass in jüngster Zeit zunehmend für den bedeutsamen Beitrag von Introvertierten auf Führungsebene sensibilisiert wird. Jennifer B. Kahnweiler spricht in ihrem Buch Geniale Gegensätze: Wie Introvertierte und Extrovertierte effektiv zusammenarbeiten (Junfermann 2016) im Blick auf das Miteinander von Introvertierten und Extravertierten im Unternehmenskontext von der „Genialität der Gegensätze“ (S. 18). „Kombiniert man (…) die besonderen Stärken Extrovertierter geschickt mit den Stärken Introvertierter“, ist Kahnweiler überzeugt, „addieren sich diese erstaunlicherweise nicht nur, sondern es kommt zu einer exponentiellen Steigerung der Leistung und zu noch besseren Resultaten“ (S. 15).
3. mehr Sichtbarkeit von Introvertierten
Im platonischen Dialog Charmides fordert Sokrates seinen Gesprächspartner Charmides auf: „Sprich, damit ich dich sehe.“ Nur wenn unser Gegenüber spricht, können wir „sehen“, was im anderen vorgeht. Wieso fällt dies gerade uns Introvertierten oft so unglaublich schwer? Es setzt voraus, dass ich etwas von dem, was in mir verborgen ist, für mein Gegenüber sichtbar – beziehungsweise hörbar und erfahrbar – mache. Introvertierte charakterisiert, dass sie einerseits um keinen Preis auffallen wollen (schon gar nicht negativ!), und dass sie sich andererseits extrem schwertun damit, anderen Einblick in ihre verborgene Innenwelt zu geben. „Sprich, damit ich dich sehe“ erinnert Introvertierte daran, dass auch leise Menschen ihren Mund aufmachen sollten: für sich selbst, für ihre Überzeugungen und Erkenntnisse, aber auch zum Wohl von anderen Menschen. Vergessen Sie als introvertierte Person nicht: Auch Sie haben etwas zu sagen! Auch Sie haben Gedanken, die es wert sind, gehört zu werden. Sie haben wundervolle Stärken und einzigartige Begabungen, die Ihnen geschenkt sind, um anderen damit zu dienen. Stellen Sie Ihr Licht nicht länger unter den Scheffel – aus lauter Angst, Sie könnten versagen, einen Fehler machen oder auf Ablehnung stoßen.
In welchem Bereich ist es für Sie an der Zeit, einen Schritt in die Sichtbarkeit zu wagen und über Ihren eigenen Schatten zu springen? Vielleicht indem Sie jemandem von einer besonderen Stärke erzählen oder diese Person Ihre Stärke gleich erleben lassen? Welche Gabe wurde Ihnen anvertraut? Dienen Sie anderen Menschen bereits damit? Falls nicht: Was hindert Sie daran?
Wagen Sie mutige Schritte in die Sichtbarkeit!
In meinem Fall hat mich dieser Weg auch ins Rampenlicht geführt. Das ist nicht bei allen Introvertierten so. Wie auch immer Ihr Weg aussieht: Vertrauen Sie darauf, dass Ihnen alles geschenkt ist, was Sie für diesen Auftrag brauchen.
Auf einen Tag mit Tiefgang!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen einen erholsamen und sinnerfüllten Tag der Introvertierten! Es wäre wundervoll, wenn Sie – extravertiert oder introvertiert – dazu beitragen, andere für dieses Thema zu sensibilisieren. Zum Beispiel, indem Sie diesen Blogbeitrag teilen, sich neues Wissen über Introversion und Extraversion aneignen oder mit Freunden ins Gespräch kommen.
Persönliche Erfahrungen, Gedanken zum Thema Introversion sowie weiterführende Kommentare sind herzlich willkommen.
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Autorin Debora Sommer
Herzlichen Dank für diesen Beitrag, Debora. Ich finde mich in manchen Aussagen wieder. Als ambivertierte Person kenne ich Extraversion und Introversion gleichermassen. Ich wünsche mir für das Miteinander ebenfalls mehr Wissen und somit Wertschätzung. Wir ergänzen einander in unserer Persönlichkeit und unseren Stärken wunderbar! Danke für deinen Einsatz und deine Bücher; ich habe sie sehr gerne gelesen. Du bist eine Bereicherung, weiter so, Debora.
Vielen Dank, Nathalie! Das weiss ich sehr zu schätzen. Ja, die Ergänzung ist grossartig! Und danke auch für den Hinweis auf die Ambivertierten ;-). Dieses Thema habe ich diesmal noch weggelassen, aber finde es ebenfalls sehr wichtig. Herzliche Grüsse, Debora
Vielen Dank für dein unermüdliches, freundliches und sehr sachkundiges Werben für mehr Verständnis und Miteinander zwischen Intros und Extros. Ich habe schon sehr davon profitiert!
Herzlichen Dank, Stefan! Das bedeutet mir sehr viel!
Danke für dein Ermutigung!!
Sehr gerne, Martin!
Liebe Debora,
Vielen Dank für diesen Beitrag mit viel fundiertem Wissen u Sensibilität.
Ich selbst bin ambivertiert u kann deshalb beide Seiten verstehen, manchmal sehr hilfreich, manchmal herausfordernd…
Gern teile ich den Beitrag und wünsche mir ,daß mehr Wissen darüber verbreitet wird ,wie Introvertierte fühlen und denken und wie gute Zusammenarbeit gelingen kann.
Vielen Dank für die ermutigenden Worte.
Ich finde auch deine Webseite sehr gelungen.
Liebe Grüße
Beate
Herzlichen Dank, liebe Beate – für das wertschätzende Feedback und dass du mithilfst, dieses wichtige Anliegen zu verbreiten :-). Herzliche Grüsse, Debora
Schön, das auch mal den Introvertierten gedacht wird;)
alles Gute
Fabiene
🙂 danke, Fabiene! Ganz meine Meinung 🙂